Anhörung im Arctic Sunrise-Fall vor dem Internationalen Seegerichtshof
Gestern fand vor dem Internationalen Seegerichtshof (ISGH) in Hamburg die Anhörung in der Streitigkeit zwischen dem Königreich der Niederlande und der Russischen Föderation in der Sache Arctic Sunrise statt. Das Interesse der Medien war groß. Unter den wenigen Plätzen, die freiblieben, waren allerdings auch die der russischen Prozessvertreter, denn – wie bereits angekündigt – blieb Russland dem Verfahren fern. Aller Voraussicht nach wird das den Gerichtshof aber nicht von einer Entscheidung abhalten.
Hauptsacheverfahren und einstweilige Maßnahmen
Nach dem spektakulären Protest von Greenpeace-Aktivisten vor und an der russischen Plattform Prirazlomnaya am 18.9.2013 stürmten Beamte des russischen Inlandsgeheimdienstes das unter niederländischer Flagge fahrende Schiff Arctic Sunrise. Die Niederlande, welche erst im Nachhinein informiert wurden, sehen im Vorgehen Russlands einen Verstoß gegen das Seevölkerrecht, insbesondere gegen die Schifffahrtsfreiheit und die ausschließliche Hoheitsgewalt des Flaggenstaates über Schiffe unter seiner Flagge.
Solche Streitigkeiten sind nach dem Seerechtsübereinkommen (SRÜ) friedlich beizulegen (Art. 279 SRÜ). Dafür können Staaten nach Art. 287 SRÜ ein Verfahren wählen. Kommt es dann zu einem Streit zwischen zwei oder mehreren Staaten und haben diese Staaten nicht dasselbe Mittel zur Streitbeilegung gewählt, so ist nach Art. 287 Abs. 5 SRÜ ein Schiedsgericht nach SRÜ Anlage VII zuständig. In dieser Situation fanden sich auch die Niederlande und Russland wieder: Während die Niederlande sich für den Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag entschieden, drückte Russland seine Präferenz für ein Schiedsgericht nach SRÜ Anlage VII aus. Damit kam es zur Anwendung von Art. 287 Abs. 5 SRÜ.
Die Niederlande bemühten sich bereits kurz nach der Festsetzung von Crew und Schiff um die Einsetzung eines solchen Schiedsgerichts. Die Einrichtung von Schiedsgerichten ist aber stets von der Kooperation der beteiligten Staaten abhängig. Das betrifft insbesondere die Ernennung von Schiedsrichtern (Art. 3 Annex VII), ohne die das Schiedsgericht seine Arbeit nicht aufnehmen kann.
Weil aber allein dieser Prozess unter Beachtung der dort genannten Fristen mehrere Monate in Anspruch nehmen kann, enthält das SRÜ besondere Regeln für vorläufigen Rechtsschutz: Sollte die Einrichtung eines Schiedsgerichts nach Annex VII nicht innerhalb von zwei Wochen gelingen, ist der Internationale Seegerichtshof auf Antrag nach Art. 290 Abs. 5 SRÜ für den Erlass von einstweiligen Maßnahmen zuständig.
Die Niederlande haben bereits am 4.10.2013 mit der Einsetzung eines Schiedsgerichts begonnen und Russland einen entsprechenden Schriftsatz zukommen lassen. Es ist nicht öffentlich bekannt, ob die Staaten tatsächlich über die Errichtung eines solchen Schiedsgerichts verhandelt haben, Russland hat aber bislang keinen Richter benannt. Unter Berufung auf Art. 290 Abs. 5 SRÜ beantragten die Niederlande am 21.10.2013 daher einstweilige Maßnahmen.
Der niederländische Vortrag: keine Überraschungen
Der niederländische Vortrag folgte weitgehend dem zuvor bereits eingereichten Antrag (das offizielle Protokoll der Anhörung ist online verfügbar). Prof. Liesbeth Lijnzaad ging zu Beginn auf das Fehlen russischer Prozessvertreter ein. Auch wenn der Seegerichtshof bislang nicht mit einer solchen Situation konfrontiert wurde, ist das Nichterscheinen einer Streitpartei aus Verfahren vor anderen internationalen Gerichten bekannt: So hat der IGH in dem berühmten Streit zwischen Nicaragua und den USA (Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua) das Fernbleiben der Vereinigten Staaten gegen Ende des Verfahrens nicht als Verfahrenshindernis angesehen. Daneben regelt das Statut des ISGH diesen Fall explizit: Nach Art. 28 kann eine Partei bei Nichterscheinen der anderen Partei „den Gerichtshof ersuchen, das Verfahren fortzuführen und seine Entscheidung zu fällen. Abwesenheit oder Versäumnis einer Partei, sich zur Sache zu äußern, stellt kein Hindernis für das Verfahren dar.“ Einen solchen Antrag hatten die Niederlande bereits vor Beginn des Verfahrens gestellt, nachdem sich das Fernbleiben Russlands abzeichnete.
Im Anschluss setzte sich Thomas Henquet, ein Rechtsberater im niederländischen Außenministerium, mit dem Vorbehalt gegen das SRÜ auseinander, auf welchen Russland die fehlende Zuständigkeit des ISGH zurückführt und das eigene Fernbleiben rechtfertigt. Wie bereits angekündigt beruft sich das Königreich darauf, dass der russische Vorbehalt zu weit gehe und damit ungültig sei. Bereits im Vorfeld hatte Prof. Doris König Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieses Vorbehalts geäußert.
Schließlich rief der niederländische Prozessvertreter Prof. René Lefeber einen Rechtsberater von Greenpeace International als Zeugen auf. Daniel Simons ist Ko-Autor einer Zusammenstellung von Tatsachen, welche dem niederländischen Antrag beigefügt ist und in dem Verfahren wohl die einzige Quelle für Tatsacheninformationen bleibt. Die Anordnung vorläufiger Maßnahmen ist nach der Ansicht der Niederlande notwendig, weil sich die Situation für die Inhaftierten durch Zeitablauf weiter verschlechtere, eine Situation, der auch grundlegende Menschenrechte entgegenstünden. Zudem würde sich der Zustand des Schiffs ohne Mannschaft verschlechtern.
Der ungewöhnliche Umstand, ohne eine Gegenseite plädieren zu müssen, führte bisweilen zu der merkwürdigen Situation, dass der niederländische Vortrag auch fernliegende Eingriffsmöglichkeiten ablehnte, auf die sich Russland möglicherweise berufen könnte, wie etwa das Recht zum Betreten von Schiffen, die Sklavenhandel betreiben (Art. 110 SRÜ). Insgesamt reagierten die Richter interessiert und stellten eine Reihe von Fragen, viele davon die immer noch unsichere Tatsachenbasis betreffend. Die niederländische Seite versprach, die Fragen bis heute Abend schriftlich zu beantworten. Diese Antworten werden ebenfalls auf der Website des ISGH veröffentlicht.
Fazit
Als vorläufiges Datum für eine Entscheidung über den niederländischen Antrag hat der ISGH den 22. November festgelegt. Greenpeace International ist sehr zuversichtlich und erwartet die Freilassung der 30 gefangenen Aktivisten. Auch wenn die Niederlande tatsächlich stringent argumentiert haben, so gab es mangels einer artikulierten Gegenposition leider nicht die Möglichkeit, die Argumente auf eventuelle Schwächen abzuklopfen. Insbesondere der Aspekt der Dringlichkeit, aber auch die Frage, ob die Rechtswidrigkeit des Aufbringens der Arctic Sunrise die Rechtswidrigkeit aller Folgemaßnahmen nach sich zieht, hätten zu Nachfragen eingeladen. Interessant wird auch, wie der Gerichtshof mit den menschenrechtlichen Argumenten umgeht.
Die Erwartungen an den ISGH sind hoch – vielleicht höher als die Möglichkeiten des Gerichts in diesem Verfahrensstadium. An dieser Stelle sei deshalb nochmals betont, dass der Gerichtshof allein über einstweilige Maßnahmen entscheidet. Dabei darf er eine Entscheidung in der Hauptsache nicht vorwegnehmen. Dafür ist allein das Schiedsgericht nach SRÜ Anhang VII zuständig. Es gibt allerdings Möglichkeiten, welche den Betroffenen ein weiteres Verbleiben in russischer Gefangenschaft erspart, gleichzeitig aber auch die Interessen Russlands wahrt, wie etwa eine Freilassung gegen Kaution.